Reaktionen und Berichterstattung über die schweizerische eidgenössische Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» ließen schon fast den Eindruck aufkommen, die Schweiz wolle sich in Zukunft mit einer Mauer, mindestens aber mit einem Zaun umgeben. Während die Franzosen sogleich begannen, mal wieder ein bisschen Grande Nation zu spielen und der Schweiz androhten, man werde die gegenseitigen Beziehungen überprüfen, vernahm man in Deutschland nur zwei Worte, nämlich gegen und Einwanderung. Die reichten aus, um sich mit dem eigentlichen Text der Initiative nicht weiter beschäftigen zu müssen. Sie erleichterten es vielmehr, sich besser echauffieren und im Glanz der eigenen überlgenen Toleranz sonnen zu können.
Die meisten Kommentare begannen zwar mit einem Bekenntnis zur Akzeptanz des schweizer Volkswillens, diesem folgte dann aber sogleich ein Strauß von offenen oder versteckten Drohungen. Das die EU nicht viel mit Volksentscheidungen anfangen kann, hat sie hinlänglich bei den Abstimmungen in Frankreich und den Niederlanden über den Lissabon-Vertrage bewiesen, oder auch bei irischen Abstimmungen. Die Ergebnisse wurden geflissentlich ignoriert oder man stimmte so lange ab, bis das Ergebnis wie im Fall Irland passte. Begleitet wurde dies oftmals durch finanzielle Anreize. All dies ist bei der Schweiz, die kein EU-Mitglied ist, nicht so einfach möglich. So bleiben nur wütende Drohungen.
Auf mögliche Gründe für die, wenn auch knappe, Annahme der Initiative mochte in der EU niemand eingehen wollen. Alles viel zu kompliziert. Und von örtlichen Problemen ist man in Brüssel seit jeher so weit entfernt wie die Sonne von der Erde. Da versteift man sich auf einmal lieber auf das Einhalten von Verträgen, was an sich nicht das Verkehrteste ist, sich bei der Euro-Rettung aber auch das ein oder andere Mal geziemt hätte. Da waren Verträge auf einmal sehr weit dehnbar oder gar nicht mehr relevant.
Der Standpunkt, die vier Grundfreiheiten der EU seien nicht einzeln verhandelbar, weshalb die Schweiz dort kein Entgegenkommen erwarten könne, klingt ebenfalls gut. Er relativiert sich aber wenn man bedenkt, dass es innerhalb der EU immer wieder Ausnahmen bei der Personenfreizügigkeit gab. Nicht zuletzt Deutschland hat bei den letzten Erweiterungen nach Osten und Südosten jedes Mal durchgesetzt, dass es lange Übergangszeiten für Bewohner neuer EU-Mitgliedsstaaten gab, und jedes Mal vor dem Datum gezittert an dem die volle Freizügigkeit in Kraft tritt. Zuletzt wunderbar zu beobachten bei den Rumänen. Ganz abgesehen davon, dass sich die gesamte EU mit Händen und Füßen gegen Wanderungsströme aus Nordafrika und dem Nahen Osten wehrt. Allenthalben also die bekannte EU-Heuchelei.
Deutsche, Franzosen usw. scheinen es sich auch nicht vorstellen zu können, dass sie als Ausländer wahrgenommen werden. Denn sie waren ebenfalls die Adressaten des Entscheids – und das wahrscheinlich noch mehr als Asylbewerber. Sie sind quasi Wirtschaftsflüchtlinge auf höchstem Niveau. Die EU-Staaten müssten eigentlich froh sein, wenn die Schweiz ihnen in Zukunft eventuell weniger hoch qualifizierte Menschen absaugt.
Die Schweiz hat mit einem Wert von 24% einen der höchsten Ausländeranteile (der deutsche liegt nur bei 13%). Ob das nun problematisch ist oder nicht, lässt sich nicht ohne weiteres sagen. Staatsgebiet und Staatsvolk sind allerdings grundsätzlich konstituierend für einen Staat. Da das Staatsgebiet durch seine Grenzen und die darüber ausgeübte Kontrolle definiert wird, ist es nun mal keine Petitesse, darüber zu entscheiden, wer in ihnen wohnen darf und wer nicht. Selbst innerhalb des Schengen-Raums haben Länder immer wieder kurzzeitig Grenzkontrollen eingeführt. Das ist keine Spielerei, sondern Ausdruck staatlicher Souveränität. Und genau diese Souveränität wollte sich der schweizer Souverän, nämlich das Volk, zurückholen. (Hätte man die gleiche Frage übrigens in Deutschland dem Volk zur Abstimmung vorgelegt, wäre das Ergebnis das selbe gewesen.)
Und dabei geht es gar nicht um die Wiedereinführung von Schlagbäumen, sondern darum, Einwanderung besser steuern zu können, wie es klassische Einwanderungsländer wie Kanada, Australien und Neuseeland schon lange machen. Die Schweizer haben auch nicht entschieden, nur noch 20 Deutsche im Jahr ins Land zu lassen. Sie haben darüber entschieden, dass Kontingente und Höchstzahlen festgelegt werden. Deren Höhe regelt ein Gesetzt, sie sind also flexibel.
Für das Selbstverständnis der EU ist etwas ganz anderes viel brisanter, und das ist die Schweiz an sich. Sie liegt mitten in ihrem Gebiet, ist kein Mitglied und funktioniert trotzdem hervorragend. Im totalen Gegensatz zur EU ist sie basisdemokratisch organisiert, während das Demokratiedefizit bei der EU so groß ist, dass sie sich selbst nicht als Staat aufnehmen dürfte. Die Schweiz erinnert die EU tagtäglich an die Lügen, die ihren Gründungsmythos ausmachen. Ohne EU kein Frieden, kein Wohlstand, keine Freiheit. Die Schweiz hat all dies – ganz ohne EU.